MAN SINGT NUR MIT DEM HERZEN GUT

TEXTE UND INTERVIEWS

SÄNGER WERDEN? IMPRESSUM UND LINKS

Der Sänger und seine Stimme treffen den Endgegneroder: wie singe ich denn nun mein hohes C?

 Text  für die Vox humana Ausgaben 2 und 3 im Jahr 2021

Man möchte meinen, Sänger und Stimme bildeten ein symbiotisches Verhältnis, tragen doch die meisten Sänger ihre Stimme stets bei sich. Und sofern die/der Singende das Singen nicht nur als Beruf, sondern auch oder gerade deshalb mit besonders viel Freude ausführt, scheint ja zunächst alles in Ordnung. 


Wenn aber nun etwas unachtsame Gesangsbewerter kommen, die den jungen oder eben auch alten Sänger mit Anmerkungen überhäufen, beginnt diese von der Natur gegebene Symbiose zu zerfallen: viele Sänger werden mit sich selbst immer kritischer und betrachten ihre Stimme mehr und mehr als Krankheit, die nur mit spezialisiertem und singulärem Fachpersonal (so bezeichnet sich dieses auch gerne selbst) behandelt und therapiert werden kann, um sie so dem klanglichen Ideal einer CD oder YouTube Berühmtheiten anzupassen. Die Natürlichkeit und Besonderheit der eigenen Stimme wird nicht mehr akzeptiert, von der Stimme wird oft in der dritten Person gesprochen, die Zuversicht schwindet, vielmehr wird nach einem Geheimschlüssel und dem Inhaber desgleichen gesucht, teils über Jahrzehnte, um sich nun dessen erneuten Bewertungen hinzugeben, damit auch noch die letzten (Stimm-)Rätsel gelöst werden. Da es diese Rätsel in einem alltagstauglichen Ablauf wie Singen gar nicht gibt und die vom Sänger selbst erwarteten besonderen Typolo- und Pathologien meist nicht vorhanden sind, wird diese Suche zwar kostspielig, aber bei Lichte gehört, auch oft ergebnislos bleiben.


Somit zieht der Sänger weiter zum nächsten Lehrenden, und da sein Thema auch hier nicht gelöst wird, bestätigt sich für ihn einmal mehr: Ich bin eben was ganz Besonderes - ein Problemfall! 


In den letzten Jahren habe ich einige Sänger mit vollkommen denaturierten Stimmen getroffen, die nicht nur des Öfteren bereits weit über 10 Lehrer hatten, sondern zum Teil auch mehrere von diesen gleichzeitig. Demgegenüber erscheinen mir manche Dreiecksbeziehungen geradezu als stressfrei ...

Ob der jeweilige Lehrer selbst singen kann oder konnte, steht in keiner Beziehung zur Kuriosität seiner gesangspädagogischen Praxis, wichtig ist, dass sein Geheimschlüssel auf jedermann zu passen scheint. Nie würde man auf die Idee kommen, bei jemandem Klarinettenunterricht zu nehmen, der nicht Klarinette spielen kann. Je unkonventioneller, desto besser - man zahlt ja viel Geld dafür! Man sollte meinen, dass diese Spezies eher im Verborgenen arbeiten würde - aber nein, man findet sie gleichermaßen an Hochschulen wie in der freien Wildbahn. Beim Ersten singst Du barfuß mit einer Kastanie auf dem Kopf, beim Nächsten gibt es Yogagesang und ganzheitliche Klänge aus einem buddhistischen Kloster, weil eben jenes Kloster anscheinend die größten Mozarttenöre mit Shaolinatmung hervorgebracht hat. Dann geht es für den Schüler wieder um Reflexion und Bewusstmachung , die beiden seit einigen Jahren massiv überstrapazierten Wörter in nahezu jeder pädagogischen Arbeit, die im Gesang natürlich absolut kontraproduktiv sind, da es sich beim Singen eben nicht um eine reflektierte, intellektuelle Tätigkeit handelt. Zudem ist Singen ja letztendlich eine unbewusste Kompetenz, die nur selten mit Verständis bezwungen wird. Irgendwann in nicht zu ferner Zukunft wird das aus der Forstwirtschaft entlehnte Wort „nachhaltig“, welches ja zur Zeit in keiner Werbung, Talkshow und Parteiprogramm jedweder Couleur fehlen darf, sicher auch noch für Gesangsunterricht verwendet werden. Besonders hübsch sind neuere Methoden, bei denen die Gesangstechnik nach Geburtsmoment fixiert wird oder die Methode so gut ist, dass diese für alle Sänger auf der Welt für alle Stimmfächer in der gleichen Tonart gilt. Fritz Wunderlich und Maria Callas würden wahrscheinlich, wenn sie noch könnten, aus dem Lachen nicht mehr herauskommen.

In vielen Gesangsunterrichten wird vor nichts haltgemacht: es gibt so abwegige gesangspädagogische Praktiken, die sich oft komplett widersprechen, dass einem Stimmbänder und Haare zugleich zu Berge stehen.

Wie und wo diese Lehrer selbst singen gelernt haben, scheint durch die von ihnen oft auch selbst erfundene Methode, die sie scheinbar durch Eingebung erhalten haben, nahezu unwichtig. Manchmal sogar bis hin zur Verleugnung des eigenen damlas so tief verehrten Lehrers. Hier zählt Pseudokreativität mehr als erlerntes Handwerk. 


Je strenger der Lehrer sich verhält, desto kompetenter und besser wirkt er. Die Hauptsache scheint zu sein, dass der Schüler sich miserabel fühlt, nur so kann er besser werden - oder zumindest kann dies dann nach der dritten Stunde behauptet werden. Nicht alles ist messbar im Gesang, und sogar die eigene Empfindung kann überzeugend manipuliert werden, gerade in einer Eins-zu-eins-Unterrichtssituation. Beispielsweise muss der Schüler zunächst das Atmen neu lernen, was eigentlich bis zum Beginn des Unterrichts im bisherigen Leben des Schülers recht unfallfrei vonstatten ging. Ein Sopran singt an einem Theater die Tosca und will im Gesangsunetrricht Ihre Stimme entsprechend darauf vorbereiten und z.B. bestimmete  Formanten  zu verstärken, um die bevorstehende Partie emotionaler und angstfreier singen zu können. Als Ergebnis hat sie nun aber durchlässigere Knie – dies wird in diesen Unterruchten gelegentlich als Erfolg verkauft! Apropos: was ist mit all diesen Worten wie z.B. „durchlässig“, die ein Gefühl vorschreiben wollen? Können diese pädagogische Mittel sein? Kann man tatsächlich durchlässig sein? Oder irgendwas loslassen? 


Und was würde man denn dann konkret loslassen? Ein Körperteil, einen Gedanken, ein Notenblatt? Es klingt, als würde der Sänger mit einer Absicht schlecht singen, und man muss ihm das nur sagen, dann wird er die Qualität schon verbessern. Aber diese Abscht gibt es ja gar nicht im Sänger.


Keiner singt extra schlecht!


Das bedeutet also, das man als Gesangslehrer auch als Hochstapler durchaus Karriere machen kann: Jeder kann eben etwas dazu sagen und zum Beispiel, wie der kürzlich pensionierte Dieter Bohlen, gemeinsam mit Millionen von TV Zuschauern, die als Mitjuroren fungieren, eine Meinung dort portofrei positionieren, wo man sie gerade für richtig hält. Da wir alle Haare auf dem Kopf tragen oder trugen, liegt der Vergleich nahe, dass wir eigentlich alle - auch ohne entsprechende Lehrjahre - Friseure sein können - was durch die Pandemie aktuell jedoch nur bedingt dokumentiert wird.  


In den letzten Jahren habe ich mir häufiger den Spass gemacht, ab und an auch mal mit Körpertherapeuten zu singen: man kann sich kaum vorstellen, wie extrem verspannt diese bei einer einfachen Tonfolge sein können. Nicht, dass ich Hochleistungsgesang für eine Wellnesskur halten würde - doch gibt es offensichtlich Anzeichen dafür, dass der Hochleistungsgesang zwar äußerst gut durch Körperarbeit flankierend begleitet werden, jedoch nicht ohne fundierte Gesangstechnik hergestellt werden kann. Das mag erklären, warum man selten Yogis als Heldentenöre sieht. Trotzdem können Körpertherapien ergänzend zu einer fundierten Gesangstechnik sehr sinnvoll sein - dann aber bitte bei hierfür ausgebildeten Persönlichkeiten. Hierfür reicht es nicht aus, dem Schüler mal ein Theraband zu reichen. 

Jeder Arzt, der heilt, hat recht und jeder Gesangslehrer, der mit einem Schüler eine objektive Verbesserung erzielt, ebenso, aber ein bisschen Seriosität würde beiden Berufsgruppen nicht schaden. 


Sobald man diese gesangspädagogische Urteilsfähigkeit nun etwas geschickter und mit ca.10 Fachvokabeln ausstatten kann, wird auch eine Lehre, wie sie etwa ein Friseur benötigt, um arbeiten zu können, immer unwichtiger. Man behauptet einfach, dass man den Weg für den Schüler, da dieser „die gleiche Anatomie“ habe, kenne und unterrichtet nun eben eine oder seine Methode - oft ohne zu erkennen, dass man statt einer Methode lieber den Schüler unterrichten sollte.


Wir unterrichten nie eine Methode, sondern immer einen Schüler.


Im Hochleistungsgesang, um den es im Konzert- und Opernfach geht, sind Sänger allzu oft Einzelkämpfer. Fast ausnahmslos scheint es: Man genügt nicht! Und der Sänger, der im ständigen Vergleich mit sich selbst und seiner singenden Umwelt lebt, kann hier binnen von Augenblicken zwischen den Klüften von Überschätzung und Selbstmissachtung changieren.

„Mit mir muss etwas nicht stimmen, denn der andere, meiner Ansicht nach weniger begabtere Kollege macht ja Karriere und ich nicht“ .... also muss eine Selbstoptimierung her, bei der die meisten Frauenzeitschriften ab Seite 38 vor Demut in Staub zerfallen würden: die Stimme muss eine ganz neue Technik lernen, das Styling muss erneuert, die Figur verbessert, die Psyche stabilisiert und das ganze Repertoire neu erarbeitet werden. Dazu muss die Medienpräsenz bis zur kompletten Entpersonalisierung angepasst werden.... 


„Meine Fresse - ich will doch nur singen!“ so erinnert der Sänger sich in lichten Momenten an seinen damaligen Beginn - er hatte seine frühere Begeisterung fast vergessen ....


Manche Sänger haben es sich zur Aufgabe gemacht, die teils skurrilen Sätze ihrer Lehrer in die Noten zu schreiben. Nicht selten gibt es pro Ton bis zu sieben verschiedenen Anweisungen. Natürlich ist der Sänger beim Versuch, diese zu erfüllen, stets von sich selbst enttäuscht und glaubt zunehmend, dass er unbegabt sei: denkt er an Anweisung Nr.1, vergisst er leider Anweisung Nr.4 und 7, der Lehrer jedoch mahnt nun zeitgleich an Erfüllung von Anweisung Nr.3, die ein gutes Legato vorschreibt. All’ dies führt früher oder zumindest später zu einer sängerischen Depression, denn diesen Kampf kann man nicht gewinnen.

Man hat eben viel zu lernen. 

Und es ist meine teils tägliche Unterhaltung, diese Anweisungen zu lesen: hier steht gerne mal über einem O ein U oder noch lustiger: ein A über einem A! Über einem Piano steht bei manchen Sängern „leise“. Knaller! Besonders hübsch sind bildhafte Umschreibungen wie: „hier aufblühen“ und für die gleiche Phrase „hier das Gefühl von Stuhlgang.“ Die Frage ist ja, was wirklich passiert, wenn man sich vorstellen soll, ein Baum zu sein, der in seinem Inneren einen blauen Staubsauger hat. Und vor allem: woher weiss der Lehrer, wie sich dieser Baum fühlt, und welche Arie sollte dieser Baum singen, und können Bäume überhaupt singen….


…und macht dies wirklich einen hörbaren Unterschied? Was passiert, wenn der Sänger über ein A ein A schreibt und was bedeutet das für seine intellektuellen Kapazitäten? Was macht er, wenn über einem A ein O steht und was tut er, wenn dann ein O gesungen werden muss? Ein A Singen? Soll das der berühmte Vokalausgleich sein? Wohl kaum! In dem Beitrag unten sind diese Anweisungen mal scherzhaft gesammelt - und leider nicht frei erfunden. Ich hoffe, dass ich hier alle, inklusive mich selbst, ein wenig treffe - oder habe ich einige vergessen? Man sieht schnell: jeder Topf muss seinen Deckel finden, glücklich der Sänger, der seinen Lehrer gefunden hat oder genauer formuliert: eine der größten Begabungen des Sängers ist es, den richtigen Lehrer zu finden, der mit Geduld und erlerntem, fundierten Handwerk - mit prognostizierbaren Ergebnissen - einen Sänger auf seinem Weg begleitet. 


Ich wünsche mir eine fundierte, reflektierte Gesangspädagogik, die wie ein Handwerk funktioniert, frei von Esoterik und Geschwafel von Ganzheitlichkeit. Wenn man sich in seinem Unterricht auf Körperarbeit fokussiert, sollte man wenigstens in einer Körpertherapieform als Lehrer ausgebildet sein. Wenn Sie wirklich glauben, das untere Passagio eines dramatischen Soprans ließe sich über einen einzigen Kunstgriff in kürzester Zeit erarbeiten, verwalten Sie nur Missstände. Dies ändert sich auch nicht, wenn Sie einen Sitzball ins Unterrichtszimmer legen. Gesangsunterricht ist Arbeit. und eben oft eine langwierige, in der zwar Innovation gerne gesehen wird, die sich aber vornehmlich aus Traditionen, die teils viele Jahre alt sind, speist. In dieser Stimmarbeit stehen das Tun, also das Singen und das Benutzen von stimmlichen Ressourcen im Vordergrund, nicht Wissen und Verständnis. Es gibt eben, so modern und verlockend es zu sein scheint, keine Gesangstechnik „To Go“, hier platzt auch kein Knoten und es gibt auch nicht den Supertrick.


Denn der Trick beim Singen ist: es gibt keinen!


Wenn der Sänger und sein Lehrer dies wirklich verstehen, kann echter stimmlicher Fortschritt geschehen.


Was wir nie (auch nicht mit einem Upright MRT) können werden: einen Sänger singenderweise einmal in der Mitte durchzusägen und reinzuschauen: daher werden auf ewig einige Mythen im Gesang bestehen bleiben - und das ist doch spannend. Trotzdem werden insbesondere die Phoniater mit ihren teils bahnbrechenden Forschungen in den nächsten Jahren viele offene Fragen von uns Lehrenden beantworten können.


Versuchen wir, uns so nah wie möglich an der Wissenschaft zu orientieren, die Tradition dabei nicht zu vergessen und neue, sinnvolle Praktiken von überflüssigem Quatsch zu trennen!


Viele Wege führen nach Rom, und manchmal sind diese Wege seltsam, was ein jeder Sänger über seinen eignen Weg sicher berichten kann - aber Rom sollte das erklärte Ziel sein und bleiben.

Trotz all’ der erwähnten, teils widersprüchlichen Einflüsse, denen der Sänger im Laufe der Zeit ausgesetzt ist und an denen er fast zu scheitern droht, gibt es neben seiner schönen Singstimme noch eine innere Stimme, die sagt: „Sing weiter! Scheiß auf die Anweisungen! Sing einfach weiter!“

Dieser tiefe Impuls ist die Seele des Sängers und diese drückt sich in seiner inneren und äußeren Stimme aus. Nur die eigene persönliche tief emotionale Art des Singens macht den Weg frei für echten Klang. Dies ist auch die Freiheit der Stimme: der Sänger singt gegen jede Gesetzmäßigkeit, frei von jeder Kontrolle und jedweder Autorität - seine Seele ist ganz Klang! Dies weiß auch schon die hebräische Sprache und hat für die Bedeutung Kehle und Seele das gleiche Wort entwickelt: „Näfesch“.



Wie singe ich denn nun mein hohes C?

Antworten auf Fragen, die Sänger nie gestellt haben! 


Mythos und Wirklichkeit um das hohe C gehen oft in verschiedene Richtungen. Besonders dann, wenn von der Natur (oder vom lieben Gott?) bevorzugte Sänger dieses singen und wiederum andere diesen Vorgang kommentieren. Es ist dann oft ähnlich wie in meiner geliebten Heimat: Man gibt einem Niederrheiner ein komplexes Gerät, sagen wir ein Messgerät mit vielen bunten Reglern und Knöpfen, von dem er keine Ahnung hat, in die Hand und, was macht er? Er beginnt zu erklären… Ähnlich ist es mit dem Sänger und dem hohen C, wenn er auf einen gutmeinenden Zuhörer trifft. Da es für die menschliche Tonproduktion zumindest im oralen Segment selten Sinn ergebende, kurze Erklärungen gibt, kann selbst der Besserwissende, oder aber auch der Gutmeinende es auch nicht wirklich erklären und dies schon gar nicht in einem Satz.


Einmal mehr stellt man fest: Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht, sondern gut gemeint. Jedermann bekannt, der eine Mutter sein Eigen nennen darf. 

Allgemein ist die Frage, ob man - wie im restlichen Leben auch - nicht besser beraten ist, wenn der Beratende, wenn er denn überhaupt um Hilfe gebeten worden ist, anstatt zu reden, besser handelt. Was soll man auch kommentieren? Kein Sänger der Welt trägt die Absicht in sich, ein hohes C schlecht zu singen. 

Besonders unterhaltsam wird es, wenn nun Menschen, die noch nie ein hohes C oder gar einen anderen Ton je (vor Publikum) gesungen haben, sich hier in Ratschlägen ergießen. So habe ich über die Jahre einige Anweisungen – mal pointierte, mal scherzhafte – gesammelt. Ich hoffe, ich habe niemand, auch mich selbst nicht, dabei vergessen. Oder? 


Esoterischer Gesangslehrer: Wenn das hohe C dich findet wirst du es spüren und es wird es aus deinen Öffnungen strömen! 


Belcantolehrer: „Sing so wie ich“


Terlusollogischer Gesangslehrer: „Wann hast du Geburtstag?“


Funktionaler Gesangslehrer: „Spanne zuerst Musculus cricothyroideus an und benutze dann kräftig den Musculus lattisimus dorsi, um gemeinsam mit dem Buccinator den Klang der Raumakustik anzupassen!“


Voicecoach: „Ich kann zwar die Stelle grade nicht spielen, aber dafür kann ich Dir genau zeigen, wie der Mund stehen muss!


Ehemaliger Sänger: „Früher habe ich diesen Ton ganz locker gesungen!“


Korrepetitor: „Ich kann es nicht vorsingen, aber sing mal genauso wie ich!“


Hippiegesangslehrer: „Let it be!“


Regisseur: „Deine Stimme ist nicht im Körper, aber räum mal die Bühne auf, dann kommt das schon und du kannst den Ton einfach schreien, das passt dann schon!“


Chorleiter: „Die So - Die So - Die Sohohonööö“


Russischer Gesangslehrer: „Die Zunge muss sich etwas aufstellen und katapultiert so den Ton raus.“


Amerikanischer Gesangslehrer: Die Zunge muss ganz flachliegen und macht so Platz für den Ton!“


Yogalehrer: „Aus dem Innern deines Körpers kommt der Klang, getragen vom Feueratmen!“ 


Phoniater: „Sind Sie privat versichert?“


Kollege 1: „Hier, versuch mal die Tablette!“


Kollege 2: „Ich weiß es auch nicht, aber es tut gut darüber zu sprechen“


Psychologe: „War Ihre Mutter vielleicht Ihr Vater?“


Sprecherziehungslehrer: „Benutze die Konsonanten als Sprungbrett!“


Stimmcoach: „Lass die Konsonanten weg!“


Mezzosopran: „Ich komm heute Abend vorbei und dann zeig ich es Dir!“


Musiktheoretiker: „Das C steht auf der Hilfslinie, weil Du da Hilfe brauchst“


Heilpraktiker: „Warum willst du Töne singen, die Du selber pressen kannst?“


Vermieter: „Wenn Sie so weiter singen, fliegen Sie hier raus“


Dirigent: „Wenn Sie so weitersingen, fliegen sie hier raus“


Musikkritiker: „Er erreichte das C mit Müh und Not, in seinen Armen der Sopran war tot!“


Ganzheitlicher Gesangslehrer: „Denke nicht an das C, fühle die Vibration des Balles durch deine Sitzhöcker auf deinen Beckenboden wirken!“


Historisch informierter Gesangslehrer: „Verdi hat für Tenöre gar kein C geschrieben!“


Mama: „Junge, dann sing doch einen anderen schönen Ton!“ 



„Wie komme ich hier zum Opernhaus?“ – „üben - üben - üben!“

Artikel für die Zeitschrift "Frankfurt in Takt"

Warum ausgiebiges Üben dem Gesang mehr schaden als nützen kann

Gerade komme ich von einem Meisterkurs in der Musikakademie Bydgoszcz/Polen. Sowohl in diesem als auch in vielen anderen Kursen, die ich in den letzten 15 Jahren in der Welt gegeben habe, begegnen mir häufig sich ähnelnde Situationen: Sobald etwas geübt und vorbereitet erscheint, verliert es sofort den Zauber des Unmittelbaren und der echten Emotionalität. Bei diesem Kurs sang ein junges Mädchen die Arie „Voi che sapete“, aus Mozarts Figaro. Jedes Atemzeichen war durchs Üben fixiert, die Aussprache war fleißig geübt worden und unterbrach das Legato ungemein, der Körper hatte sich nach und nach durch die einstudierten Gesten, die ohne Sensitivität geübt worden waren, komplett versteift. Ein fast bemitleidenswerter Vortrag, der durch die Übung der Wiederholung des ständig Uninspirierten fast bis zur Unkenntlichkeit der eigenen künstlerisch-sängerischen Persönlichkeit hervorstach. Die typologischen sängerischen Kompensationen bestimmten den gesamten Vortrag der Arie Erst durch ein Singen der Habanera aus „Carmen“, welche die besagte Sängerin ausschließlich vom Hören her kannte, konnte sie auf „La La La“ unter Tränen und begleitet vom Applaus des Auditoriums, einen Zugang zu ihrer eigenen Stimme finden, die sie über Jahre „weggeübt“ hatte.

Gerade das Unmittelbare, das Direkte ist es, was uns Zuhörer und auch genaue Beobachter fasziniert. Häufig denkt man: Es sieht nur leicht aus – ist es aber nicht. Doch, ist es wohl! Musik kann nicht nur Spaß und Freude machen, sondern ich möchte hier behaupten: Musik entsteht genau daraus.

Musik ist sicher, neben allen anderen Umschreibungen, hörbar gemachte Emotion. Der Musiker als Ausübender jedoch ist in der Regel ein reproduzierender Künstler und kann somit nur begrenzt Einfluss auf die Art und Weise der Emotion nehmen.

Also handelt es sich, neben dem Verständnis des Notentextes, beim Üben um zweierlei: Üben einer funktionalen Fähigkeit zur Beherrschung eines Instruments und Üben einer Emotionalität.Hier ist zum Thema Üben eines Instruments eigentlich schon alles gesagt: Man siehe zu, dass man sein Instrument durch ein gewisses Übepensum beherrscht, alle musikalischen Parameter umsetzen kann und dann das Herz an der richtigen Stelle hat.

Beim Sänger ist dies anders gelagert, da er selbst das Instrument ist. Sobald er zu üben beginnt, startet ein seltsamer Kreislauf, am ehesten vergleichbar mit dem Psychotherapeuten, der abends nach Hause kommt, sich auf seine Couch setzt und zu sich selbst sagt : „Nun erzähl mal, wie war dein Tag?“. Er kann sich - ebenso wie der Sänger - nicht selbst behandeln. Hinzu kommt für den Sänger, dass Singen ein herrlich unreflektierter, körperlicher Vorgang ist, der seine Ursprünge im Beginn der Menschheit hat. Gerade weil Singen so archaisch ist und zum Menschsein gehört wie keine andere Kunstform, ist es so schwierig, dies zu üben oder gar in die Form der universitären Lehre zu stecken. Die Kontrolle, die wir beim Instrumentalspiel unbedingt benötigen, führt beim Singen genau zu den entscheidenden Problemen. Die Kontrolle beim Singen ist, dass es keine gibt. Hieraus erkennt man, dass es für einen Sänger ein seltsames Unterfangen darstellen kann zu üben. Dies wird jedem sofort klar, der einen Spaziergang durch die Übehäuser der Hochschulen unseres Landes unternimmt: „Dies Baldnis ist bezaubernd schön...Dies Büldnis ist bezaubernd schön...dies Bäldnis ist bezaubernd schön...“

Was können wir denn beim Gesang üben?

Wenig! Neben allen musikalischen, emotionalen Dingen geht es beim Sänger primär um die Koordination und den Aufbau des Gesangsorgans. Der Sänger kann höchstens, im Bezug auf den Mechanismus des Singens, veränderbare Parameter üben: Resonanz, die Stimme selbst und natürlich die Atmung (Nicht den Atem – den kann man nicht durch Üben, aber mit Pfefferminzbonbons beeinflussen...). 

Und hier sind die Ergebnisse meist nur bescheiden, weil der Sänger sich beim Üben oft nur auf einen von vielen Faktoren fokussiert. Und da das Gesangsorgan ebenso weitläufig wie komplex ist, entstehen hier meist mehr Fixierungen als nützliche Verbesserungen. Der Versuch beispielsweise, die Durchlässigkeit des Knies bewusst zu machen, hat einen ähnlichen Effekt wie die (Selbst-)Aufforderung, nicht an den berühmten blauen Elefanten zu denken. Schon beim Drandenken entsteht die erste Fixierung. Zudem fällt es selbst einem erfahrenen Gesangspädagogen häufig schwer, die entscheidenden Themen des Organs tagesabhängig zu analysieren und dann erfolgreich zu bearbeiten - wie soll dies nun der Sänger tun, dessen Gehör durch die Knochenleitfunktion auch noch erheblich beeinflusst wird? 

Manche Lehrende arbeiten hier mit Bildern, wie zum Beispiel „Fühle Dich wie ein Baum und schlage Wurzeln“ - dann frage ich mich zunächst immer, woher man wissen soll, wie sich ein Baum fühlt und wie dieser dann die Lieder von Duparc singen würde und wie denn die französische Aussprache dieses Baumes ist, insbesondere bei amerikanischen Eichen (Quercus rubra)...

Dazu aber frage ich mich, und dies mit weitaus größerer Besorgnis, was hier beim Üben passiert: Steht der Kirchenchorsänger nun wirklich in seinem Hobbykeller und stellt sich vor, er sei ein Baum? Und falls ja, welchen Einfluss hat das auf seinen Gesang?

Was der Sänger ja häufig beim Üben tut, ist, dass er sich selbst unterrichtet. Dies geht bei vielen Instrumenten recht gut. Da man als Sänger aber selbst das Instrument ist, führt dies unweigerlich zu Themen, die von nicht (beruflich) singende Menschen nur schwer nachzuvollziehen sind: „Irgendwie denke ich, meine Stimme hat einen Silberfaden und ich habe eine goldene Kugel auf dem Kopf, und ich weiß nicht, wie ich den Regenschirm in meinem Bauch aufspannen soll.“

Der berühmte Sänger Jerome Hines verfasste ein Buch mit Interviews mit berühmten Sängern, die über Ihre Art zu singen sprechen: „Great singers on great singing“. Alle beschreiben den gleichen physiologischen Vorgang, durch ihre Wahrnehmung geprägt, als völlig unterschiedlich. Wenn der bei allen Menschen vom Mechanismus her betrachtet gleiche Vorgang des Singens so unterschiedlich wahrgenommen wird, wie soll ich dies nun üben? Das bedeutet, dass Anna Netrebko, vom Aufbau her betrachtet, das gleiche Organ im Hals hat wie unser Hochschulpförtner. Jedoch haben beide sicherlich (und auch hoffentlich) andere Themen in ihren Gesangsorganen, die ein Üben sinnvoll machen könnten.

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, meinte Schiller. Sobald der Mensch diesen Moment durch Bewusstmachung und Reflexion beeinflusst, stört er den wahrhaften künstlerischen Prozess. Den Vorgang des Singens nicht zu denaturieren, ist eine große Aufgabe für den Sänger. So manch einer übte schon so lange Gesang, bis er kein Gute-Nacht-Lied mehr singen konnte.

Das wichtige beim Singen üben, ist, dass man aufhört, es zu üben, dies impliziert ja bereits ein Unvermögen. Da die Stimme in uns Menschen als vollkommenes Instrument angelegt ist, wartet dieses Organ nur darauf entdeckt zu werden.

Abgewandelt nach Dostojewskij: Der Mensch kann nicht singen, weil er nicht weiß, dass er singen kann.

Singen ist so leicht – das pfeifen die Spatzen von den Dächern.

Dann fangen wir mal an zu üben…


Hören und Handeln - Artikel für die Vox Humana (2017)

Einen Text oder gar ein Buch über das Singen zu schreiben ist wohl ein seltsames Unterfangen. Es kommt dem Versuch gleich, eine Analyse über das Thema Glück oder Liebe oder aber noch treffender: über eine normale Alltagstätigkeit zu schreiben. Zudem sind die Autoren, so auch ich, meist keine Akademiker oder gar Intellektuelle, sondern schlicht Sänger oder Gesangslehrer, und dies obendrein selten beides gemeinsam auf einer gewissen Qualitätsstufe. Und selbst dann bleibt es beim Amateurhaften, denn das wirkliche Wissen über das Singen ist recht gering und zudem nicht vordergründig. Die Traditionen und Erfahrungen der Gesangpädagogik sind verwischt und in viele Einzelteile zerfallen, was auch erklärt, warum es immer wieder neue Wundermethoden gibt, denen viele Sänger in ihrer Not gerne und bereitwillig den eh schon meist gering gefüllten Geldbeutel öffnen.

Singen ist zunächst mal eine herrlich unreflektierte, hochemotionale körperliche Tätigkeit, die unabdingbar zum Menschen gehört und ihm von Geburt an ureigen ist, da das Singorgan innerhalb von uns liegt. Plötzlich, wenn es um klassischen, kunstvollen Gesang geht, denken wir, es müssten Musikschulen oder gar Hochschulen gebaut werden, um in diese Institutionen Menschen zu stecken, die von Wissenden unterwiesen werden, um das Unreflektierte zu reflektieren, die Emotionen beim Singen zu kontrollieren und den Körper zu beherrschen. Hier beginnt ein seltsamer Prozess der Denaturierung. Es ist also eine Herausforderung, sich diesem Paradoxon in der Gesangsausbildung, mit etwas von Natur aus Unreflektiertem als Lehrender reflektiert umzugehen, sinnvoll zu stellen.

Um der Bitte des BDG wenigstens halbwegs nachkommen zu können und meinen Versuch hier nicht in die Pseudopraxis 

„Was wäre, wenn wir das hören würden?“einzureihen, versuche ich an dieser Stelle lieber etwas Licht in die Betrachtung des Gesangs und der Gesangpädagogik zu werfen, um – zumindest scheinbar – seriös zu erscheinen. Und selbst dies ist dann nur meine Sichtweise – eine andere habe ich schließlich nicht zur Verfügung.

Das Singorgan ist allen Leserinnen und Lesern hinlänglich bekannt und bedarf sicher bezüglich des Aufbaus keiner weiteren Erklärung. Ein verantwortungsvoller Gesangslehrer kennt den Aufbau des Organs und die dazugehörige Fachliteratur. Insbesondere im BDG sind und waren hervorragende Phoniater aktiv, die aus medizinischer Sicht grundlegende schriftliche Beiträge geliefert haben. Besonders in diesem Bereich hoffe ich für die Zukunft auf weitere Erkenntnisse, um die Brücke zwischen Forschung und gesangspädagogischer Tradition tragfähiger zu machen.

Für uns als Stimmerzieher stellt sich die Frage nach direkt veränderbaren, konkret benennbaren Parametern im Umgang mit der Stimme. Als Gegensatz hierzu sei ein Arbeiten mit dem Versuch, Wahrnehmungen zu übertragen, genannt. Die Wahrnehmung des Sängers (und oft auch des Lehrers) ist ein kunterbuntes Etwas, welches teilweise an abstrusen Ideen kaum zu überbieten ist. Diese Wahrnehmung ist nur äußerst selten von einem auf den anderen Menschen übertragbar und somit für mich kein sinnvolles pädagogisches Werkzeug. Aus diesem Grunde betrachte ich einen bildhaften Unterricht, der sich primär an Wahrnehmung orientiert oder diese gar vorschreibt, selten als seriös. Bitte überdenken Sie beim nächsten Mal im Unterricht den Satz: „Sei wie ein Baum.“ Wie ginge es Ihnen, wenn man Ihnen sagen würde: „Sei wie ein Baum!“? Woher weiß Ihr Lehrer, wie sich ein Baum fühlt, woher sollen Sie es wissen? Und außerdem: Wie viele Opernhauptrollen wurden für Bäume komponiert? Aber wie so oft gilt auch hier: Wer heilt, hat recht. Es mag Sänger geben, die mit dieser oder einer anderen Vorstellung besser singen. Für mich kann eine solche „Methode“ jedoch keine Basis einer stimmerzieherischen Arbeit sein.

Es muss in der Gesangspädagogik um konkret veränderbare Parameter im Singprozess gehen - diese sind schnell aufgezeigt:

Die Resonanz

Die Stimmfalten mit Kehlkopf und umliegender Muskulatur

Die Atmung

Dies sieht zunächst nach einem überschaubaren Themengebiet aus. In jedem Fall sind dies die Hauptbetätigungsfelder des Stimmerziehers. Alles andere ist nebensächlich und meist sogar im Rahmen des Gesangsunterrichts nicht erforderlich. Hier ist folgende Begriffsklärung von Nöten: Häufig wird, ob im privaten Rahmen oder an jeglicher Art von Institution, der Beruf des Gesangslehrers mit dem des Korrepetitors verwechselt, so dass im Gesangsunterricht unter oft mäßiger Klavierbegleitung anstelle von Stimmarbeit das zu singende Werk interpretiert wird. Hierdurch wird aber zum Beispiel nicht das untere Passagio eines Mezzosoprans erarbeitet! Auch wenn man dreißigmal die Kartenarie der Carmen singt! An dieser Stelle wäre es eigentlich angebracht, noch einmal über den Begriff „Gesangslehrer“ und seine Aufgaben nachzudenken: An Musikschulen und im privaten Unterrichtsbereich stellen sich durchaus andere und oft umfassendere Aufgaben als an Hochschulen. Für die Betrachtung dieses Themas ist im vorliegenden Artikel leider nicht genug Platz.

Zurück zu den veränderbaren Parametern: Was kann ich verändern und was nicht?

Thema Resonanz:

In der Resonanz sind die Wahrnehmungen sehr unterschiedlich und die Berichte von Sängern über ihr eigenes Singen oft recht abenteuerlich. Stellen wir uns kurz die Stirnhöhlen als Resonator vor: Einige Sänger können dies sofort nachvollziehen und tatsächlich ändert sich sogar in einigen Fällen der Klang. Aber wahrhaftig ändert sich an dem Raum Stirnhöhle schlicht nichts. (Auch wenn manche Sänger den Eindruck hinterlassen, dass mehr als nur die Stirnhöhle hohl sein könnte…natürlich nur klanglich betrachtet...) Die Stirnhöhle an sich ist also ein nicht veränderbarer Parameter.

Welche Dinge sind aber im Bereich Resonanz konkret beeinflussbar? Hier sei zunächst die Mund- und Schlundresonanz genannt: Wenn Sie zum Beispiel Synchronsprecher der Mainzelmännchen werden möchten, ist es sicher sinnvoll, diese Resonanz eher zu verkleinern und damit die Chancen auf eine Anstellung in diesem Berufsfeld zu erhöhen. Für den klassischen Sänger, der mit seiner Stimme ganze Säle über ein Orchester hinweg beschallen möchte, sollte die Resonanz eher ins Gegenteilige geformt werden, um so neben einigen anderen Parametern zum Beispiel auch gewollte Formanten zu unterstützen. Dies ist bei guten und bedeutenden (nicht unbedingt gleichbedeutend mit erfolgreichen) Sängern leicht zu beobachten. Dazu gesellt sich der Nasenrachenraum, der eine wichtige Rolle für den Sänger spielt. 

Dies alles erfordert jahrelanges Üben, zunächst mithilfe des Stimmerziehers, dann aber völlig selbständig singenderweise.

Thema Stimmfalten:

Die Stimmfalten selbst sind von kardinaler Bedeutung und verlangen dem Stimmerzieher größte Hörkonzentration ab. Wie schließen die Stimmfalten? Wie dehnen sie und wie stark kann man sie kontrahieren? Darf ich beides mit meinem Schüler üben? Welche individuellen Schwächen und Stärken gibt es? In welcher Verfassung ist die Muskulatur um den Kehlkopf, die quasi wie eine Verbindung zur Atmung fungiert? Gibt es etwas Pathologisches zu hören? Der Verfall einer Singstimme hat immer hier ihren Anfang. Genau dort beginnt, zunächst nicht immer für den Phoniater sichtbar, das Ende einer Stimme. Der Stimmerzieher tut gut daran, sich immer und beständig diesem Thema weiter zu nähern.

Thema Atmung:

Die Stütze bringt den großen Singprozess erst in Gang und ist ein starker körperlich-emotionaler und vor allen Dingen dynamischer Prozess. Meist ist dieser große Vorgang durch Erziehung und oft auch durch gesangliche Erziehung gestört, so dass enorme Aufgaben auf den Stimmerzieher warten. Besonders Berufssänger weisen oft eine starke Betonung der Einatmungsmuskulatur auf und können diese auch körperlich anzeigen. Manchmal auch hier mit abstrusen Ideen: „Die Luft kommt aus dem Bauch.“ (Anmerkung: Luft, die einmal im Bauch ist, sollte nicht für Gesang verwendet werden! Nicht zuletzt aus olfaktorischen Gründen...)

Diese oft seltsamen Fiktionen stammen aus der schon benannten subjektiven Wahrnehmung, in diesem Falle der Atmungs- und auch Atmungshilfsmuskeln, die der Sänger beim Stützen deutlich spüren kann. Hier sind besonders die hinteren unteren Rückenmuskeln und die Flankenmuskeln von größter Bedeutung: Sie schalten sich mit der gesamten Rumpfmuskulatur und der äußeren Kehlkopfmuskulatur zusammen und bilden so dieses große Ganze, was wir Singen nennen. Insbesondere im Hochleistungsbereich für Singstimmen ist dies unerlässlich und bewirkt einen großen, tragfähigen, unforcierten Klang. 

Da der BDG sich für eine einheitliche Nomenklatur in der Gesangspädagogik einsetzt, sei hier erwähnt, dass Atem und Atmung zwei sehr unterschiedliche Dinge und Begriffe sind, die selbst in der Fachliteratur manchmal verwechselt werden. Sollten Sie also Ihren Atem beeinflussen wollen, lutschen Sie lieber Minzbonbons.

Wie alle Bereiche unserer Stimme ist insbesondere der Stützvorgang durch eine intellektuelle Benennung oder gar Fixierung („Atme dort hin") extrem anfällig für die eingangs benannte Denaturierung des Singvorgangs. Gleichzeitig ist es aber für den Stimmerzieher von größter Bedeutung, diesen sehr emotionalen Prozess im Unterricht zu intensivieren oder überhaupt erst in Gang zu setzen.

Und hier stoßen wir auf das große Problem unseres Berufs: Wie sollen wir etwas beibringen, was unser Gegenüber, also unser Schüler, eigentlich von Natur aus bereits kann? Der Sänger spürt schließlich weder seinen Hals noch die Vorgänge innerhalb der Kehle – wenn er denn gesund ist und gut singen kann. Wie bringt man also dieses Nicht-Empfinden bei, und wie vermittelt man dies? Wir freuen uns doch über den Satz des Schülers: „Jetzt ging es viel leichter.“ Der Sänger, der mit Druck seine Kehle malträtiert, spürt diesen Druck ganz immens. Manchmal gewinnt er diesen Druck auch lieb und behält ihn als ständig zu kontrollierenden Partner ein Leben lang. Ihm nun zu sagen, er solle nicht mehr drücken, ist so unglückselig, wie einem Patienten unmittelbar nach der Beinbruchoperation zu sagen, er solle die Krücken weglassen: Er kann es nicht, weil der Druck zur Notwendigkeit geworden ist. Hier sei erwähnt, dass hierzu oft sogar eher die musikalischeren Sänger neigen, denn sie haben auch bei stimmlichem Unvermögen den unbedingten Drang, ihre musikalischen Empfindungen ausdrücken zu wollen.

Wir benötigen also als Gesangslehrer ein umfangreiches medizinisches Wissen, sollten in allen Körpertherapieformen ausgebildet sein, sollten das gesamte Repertoire aller Stimmfächer auswendig kennen und mindestens 100 Jahre Erfahrung im Lehren haben. Außerdem sind wir Meister aller psychologischen Phänomene und können diese mit nur einem Satz heilen. Und als Pädagogen sind wir, obwohl wir dies selten studiert haben, absolut unanfechtbar. Zusätzlich sind wir herausragende und mit einer langjährigen Erfahrung versehene Künstler, die niemals auch nur einen Ton unmusikalisch oder gar gesangstechnisch fehlerhaft singen. Ist nicht Gesangslehrer der undenkbarste Beruf für einen Sänger...? Diese Aufgaben sind so umfangreich und eigentlich kaum zu bewältigen – und dennoch versuchen wir es alle immer wieder: was für eine herrliche Berufung!

Der Sänger sollte unreflektiert aus dem Vollen schöpfen und mit Kehle und Seele singen – wir als Lehrende sollten im Gegensatz unser Tun ständig reflektieren und verbessern. Erfahrung hat hier natürlich eine große Bedeutung – dennoch: hinterfragen Sie alle Übungen, Ihre eigenen und auch die der großen Meister (falls es diese heute überhaupt noch gibt). Seien Sie kritisch, was Methoden und insbesondere Methodengläubigkeit angeht. Oft wird hier die Methode anstelle eines individuellen Schülers unterrichtet.

In jeder Stunde sollte auch musiziert werden. Das sinnlose Aufeinanderfolgen von irgendwelchen Übungen, die schablonenhaft von einem auf den anderen Schüler übertragen werden können, wird schnell zum Selbstzweck und verliert den Bezug zum eigentlichen Ziel, mit der Stimme Emotionen musikalisch auszudrücken. Der Gesangslehrer möchte sich dabei aber, wie schon beschrieben, über den Unterschied zwischen Stimmerziehung und musikalischer Arbeit im Klaren sein.

Konzentrieren Sie Ihre Arbeit auf das, was Sie TUN, und nicht auf das, was sie BENENNEN. Beschränken Sie sich auf das, was Sie können, und vermischen Sie nicht alles mit Ihren subjektiven Erfahrungen. Ein Wochenendworkshop in Yoga macht Sie nicht zum Yogagesangslehrer. Zudem ist diese Form von Körperarbeit keine Gesangstechnik, aber dennoch könnte zum Beispiel Yoga diese ungeheuer unterstützen. Ein Gummiball in Ihrem Zimmer macht Sie nicht zum ganzheitlichen Gesangslehrer – diese Überzeugung wäre, mit Verlaub, als Affront gegen alle gut geschulten Körpertherapeuten zu werten.Schauen und hören Sie genau hin – ist diese oder jene Verspannung des Singenden möglicherweise eine Kompensation eines nicht gut koordinierten Singorgans oder eben der Ausdruck höchster Musikalität in einem zu schwer ausgewählten Musikstück?

Wenn Sie sich für Unterrichtmittel abseits der oben genannten Parameter interessieren, dann empfehle ich uneingeschränkt, dies mit größtem Interesse zu tun, sich mit großer Offenheit zu nähern und trotzdem kritisch zu hinterfragen, ob mithilfe dieser Unterrichtsmittel eine Verbesserung im Singen erreicht wird. Was man glaubt für sich selbst gefunden zu haben, muss nicht auf alle Schüler zutreffen.

Trotz allem Gesagten gilt: Viele Wege führen nach Rom! Wie viele bedeutende Sänger der Gegenwart und der Vergangenheit kennen wir, die mit ihren typologischen Verspannungen und Unarten eine große Karriere gestalten konnten?

Bedenken Sie als Lehrende immer: Niemand singt mit Absicht schlecht! Halten Sie sich mit einer verbalen Abwertung zurück und bearbeiten und verbessern Sie lieber, was Sie hören. Wenn der Schüler es besser könnte, würde er es ja machen. Eine Abwertung ist hier sicher nicht hilfreich. Also: Hören und sofort handeln – tun statt nur zu benennen!

Hospitieren Sie bei guten Gesanglehrern – diese sind z.T. an Hochschulen zu finden – es gibt aber auch viele gute Lehrer, die ganz im Verborgenen arbeiten. 

Bleiben Sie neugierig auf das, was in unserem schönen Beruf täglich passiert, und hoffen wir für uns alle, dass wir mit jedem Tag ein bisschen besser unterrichten.

Das Wesentliche ist unsagbar! Aber singbar?

Interview mit Thomas Heyer (Sommer 2015)

Brigitte Lehner: Lieber Herr Professor Heyer, warum singen Sie?

Thomas Heyer: Den Professor brauchen wir zum Singen nicht! Gegenfrage: Warum singen WIR? Also: Warum singt der Mensch? Antwort: Es ist seine Natur, es ist normal. Der Mensch ist ein Sänger, seine Natur ist es zu singen - nicht im beruflichen Sinn, nicht jeder Mensch sollte sein Geld mit Singen verdienen. Aber der Aufbau des Organs ist physiologisch betrachtet überall der gleiche, und mit diesem wunderbaren Instrument möchte der Mensch gerne singen. Singen ist für den Menschen eine Lebensäußerung. So ist es bei mir auch - ich kann mich nicht erinnern, dass es einen Tag in meinem Leben gab, an dem ich nicht gesungen habe.

Brigitte Lehner: ...und sprechen?

Thomas Heyer (lacht): Ja, sprechen kann ich auch, aber das ist wieder eine intellektuelle Tätigkeit - singen ist eine emotionale Tätigkeit, die den ganzen Körper benutzt und zunächst nicht intellektuell motiviert ist. Singen ist Emotion, Sprechen ist leider viel zu oft nur Information, und diese ist leider häufig überflüssig.

Brigitte Lehner: Zurück zu Ihnen: Wann haben Sie mit dem Singen angefangen?

Thomas Heyer: Wahrscheinlich wie alle Menschen im Säuglingsalter mit pentatonischem Gelalle, welches im übrigen wirkliches Singen ist.Als Kind habe ich viel gesungen, und dann lernte ich schnell Instrumente spielen: Akkordeon, Orgel und viel später noch Klavier - da bin ich aber eigentlich eher Autodidakt. Seit meiner Kindheit stehe ich regelmäßig auf der Bühne. Ich habe mir damit schon früh mein Taschengeld verdient, besonders mit Unterhaltungsmusik, da sang ich Schlager oder wurde als Barpianist engagiert. Zum eigenen Spiel zu singen, fand ich immer schon völlig normal.

Brigitte Lehner: Wer hat Sie entdeckt?

Thomas Heyer: So kann man das nicht sagen! Es kam niemand und hat gesagt: Du wirst mal ein guter Sänger oder ein Gesangsprofessor. Ich habe vielen Menschen viel zu verdanken, besonders denen, die lange vor der Kölner Hochschule wichtige Grundsteine in meine Musikerseele gelegt haben.

Brigitte Lehner: Ihre Eltern?

Thomas Heyer: Natürlich! Das Wichtigste, was man einem Menschen geben kann ist Herzensbildung. Aber auch viele andere wichtige Dinge, und viel Unterstützung. Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Meine Mutter ist Hausfrau, und mein Vater ist Schlosser. „Du musst eine gute Arbeit machen“, sagt er immer. Gesang ist Handwerk, und ein Sänger, besonders ein Gesangslehrer, ist auch immer ein Handwerker.

Brigitte Lehner: Sie haben an der Musikhochschule in Köln studiert. Wie war das so?

Thomas Heyer: Eine wunderbare Zeit, in der ich viel gelernt habe. Ich studierte Schulmusik mit Hauptfach Gesang. Das war absolut das richtige Studium für mich. Ich konnte alles machen, was mich interessierte: Singen, Chöre und Orchester dirigieren, Klavier spielen, viel Musik kennenlernen. Ich habe alles aufgesogen, denn alles war neu - ich bin ja nicht mit klassischer Musik aufgewachsen. Dazu habe ich Pädagogik und Germanistik an der Kölner Uni studiert.

Brigitte Lehner: Chöre haben Sie doch bereits vor dem Studium geleitet.

Thomas Heyer (lacht): Ja ja, völlig ahnungslos - aber wir hatten viel Freude an der Musik. Das war mein Jugendchor. Viele tolle Menschen auf einem Fleck. Freunde und Musiker - so, wie ich es heute noch mag. Später habe ich viele Chöre geleitet, und tatsächlich habe ich nun nach über 15 Jahren Pause wieder angefangen Projektchöre zu leiten - mal sehen, was doch noch so kommt.Aber ich habe vor dem Studium noch mehr abenteuerliche Sachen gemacht: komponiert! Sehr schlecht, aber schön. Ein Musical zum Abitur, welches ich dann auch mit meinen Mitabiturienten einstudiert und aufgeführt habe, und auch anderes Zeug, wie lateinische Messen u.s.w. Aber das war wirklich nicht so dolle. Während meines Studiums habe ich mich dafür geschämt, weil es eben nicht so gut war. Heute habe ich wieder mehr Mut und komponiere in meiner Freizeit.

Brigitte Lehner: Und dann studierten Sie Gesang?

Thomas Heyer: Nein, erst kam ein kleines Engagement am Opernhaus Hagen, noch als Schulmusikstudent. Das war übrigens auch das erste Mal, dass ich ein Opernhaus von innen gesehen habe. Erst danach studierte ich dann Gesang in Köln.

Brigitte Lehner: Wer waren Ihre Lehrer?

Thomas Heyer: Vor dem Studium Judith Lindenbaum, sie war meine wichtigste Lehrerin.In Köln studierte ich bei Arthur Janzen. Ein wirklich toller Lehrer - er verstand es, aus dem Naturereignis Thomas Heyer einen Sänger zu schmieden. Arthur Janzen und Judith Lindenbaum kamen beide aus der Tradition von Frederik Husler und haben bei Prof. Theo Lindenbaum in Detmold studiert.Später nahm ich Unterricht bei Reinhard Leisenheimer und Kurt Moll.Zu allen Lehrern verbindet mich bis heute eine enge Freundschaft. Mit dem leider verstorbenen Reinhard Leisenheimer durfte ich sogar einige Jahre gemeinsam Kurse geben, da habe ich viel gelernt.

Brigitte Lehner: Nach dem Studium haben Sie Ihre Karriere als Sänger begonnen?

Thomas Heyer: Ich mag das Wort Karriere nicht so gerne, das klingt so nach berühmt, und das bin ich sicher nicht und möchte es auch nicht sein.Ich habe bereits während des Studiums viel gesungen - Engagements am Kölner Opernhaus, am Theater im Revier Gelsenkirchen, an der Frankfurter Oper und so weiter. Im Konzertfach lief es auch ganz gut: da konnte ich schon mit Mitte 20 in den großen Sälen wie der Berliner Philharmonie, der Kölner Philharmonie, dem Leipziger Gewandhaus und ähnlichen Musentempeln in Europa singen. Meist waren es Mozart und Mendelssohn, und eben Carmina Burana, aber auch vieles andere Bedeutende und Unbedeutende. Und viel Bach. Die Evangelisten in den Passionen sind zentrale Punkte in meinem Künstlerdasein, weil sie Religiosität und Singen verbinden.

Brigitte Lehner: Mit 35 Jahren wurden Sie plötzlich Professor in Frankfurt - wie kam es dazu?

Thomas Heyer: Naja - so plötzlich war es auch nicht. Bis zu einem Berufungsverfahren dauert es schon eine Zeit. Bereits viele Jahre davor unterrichtete ich an Hochschulen und Universitäten und gab Masterclasses in verschiedenen Ländern. Neben dem Singen unterrichte ich inzwischen schon sehr lange - in diesem Jahr bereits über zwanzig Jahre. Und davor hatte ich bereits als Jugendlicher Instrumentalunterricht gegeben. Irgendwie habe ich immer unterrichtet. Am Anfang wahrscheinlich eher schlecht als recht - die ersten Gesangsschüler waren einige Choristen meines Jugendchores, die vor der Probe Einzelunterricht bei mir hatten. Als Sänger und Gesangslehrer zu arbeiten ist mein Traumberuf! Ich habe eine wunderbare Klasse mit tollen Sängerinnen und Sängern an der Frankfurter Hochschule. Diese Klasse liegt mir sehr am Herzen - es sind wunderbare Menschen!

Brigitte Lehner: Warum geben Sie Meisterkurse? 

Thomas Heyer: Ganz einfach: Es bereitet mir große Freude, diese Arbeit zu tun. Und, ehrlich gesagt, empfinde ich dies nicht als Arbeit. Vor vielen Jahren entwickelte ich ein eigenes Konzept für Kurse, mit drei Unterrichtseinheiten täglich für jeden Teilnehmer: eine Einheit Technik, dann Repertoirearbeit mit dem Pianisten und dann eine Vorsingsituation vor der Gruppe. So konnten schon mit vielen hunderten Sängern ganz gute Ergebnisse eingefahren werden. Die Kurse finden statt in Amerika, Kanada, Italien und natürlich in Deutschland. Neuerdings auch in Slowenien - was für ein schönes Land! In diesem Jahr gebe ich einen Kurs in Polen in Sosniviec, der Geburtsstadt von Jan Kipura, dem berühmten polnischen Tenor.

Brigitte Lehner: Was ist wichtig für einen Sänger?

Thomas Heyer: Das Wichtigste für den Sänger ist tatsächlich seine Stimme, dann erst kommt Musik und Interpretation. Wenn die Stimme wirklich gut funktioniert und die ihr eigene Musikalität freigesetzt werden kann, wird interpretatorisch ganz viel kommen. Die Stimme hat dann quasi eigene Ideen! Musikalität wird also nicht von außen herangetragen, sondern eher von innen heraus geweckt! Erst eine aufgeschlossene Stimme kann im klassischen Bereich die Emotionen hörbar machen, die ihr Träger innerlich ganz wahrhaftig empfindet. Das ist ein Prozess, der mich immer wieder fasziniert. Alles andere ist leider oft mit wenig oder gar keiner Wahrhaftigkeit versehen. Kunst und künstlich liegen da oft nah beieinander. Mehr noch, manchmal werden sogar Stimmeinschränkungen als Stilmittel ausgerufen, wenn z.B. eine Sängerin, die über ein unregelmässiges Vibrato verfügt auf barocke Musikreduziert wird. Dann doch lieber Popular Musik, die ehrlich musiziert und gesungen wird und in der Phonasthenien sogar stilbildend sein können. Letztendlich zählt, dass man mit dem Herzen singt egal in welchem Bereich.

Brigitte Lehner: Was bedeutet das für den Sänger?

Thomas Heyer: Wahrhaftigkeit findet man sicherlich nicht in der 37654 Pressung einer CD von Anna Netrebko oder gar in den Youtube Videos dieser wunderbaren Sängerin. Das sind Reproduktionen derWirklichkeit und nicht die Wirklichkeit. Somit verroht die Sinnlichkeit des Hörens und folglich auch die des Singens. Singen kann man am besten erleben, wenn man es tut oder es live wahrnimmt, nicht indem man einen Sänger auf Grund seiner CD, die im Studio mit viel technischerRaffinesse erstellt wurde, bewertet. Darüber hinaus ist es schwierig, Musik in elektroakustischer Wiedergabe zu empfinden, es bleibt beim konsumieren und eben nicht im sinnlichen Erleben. Der Ton des Sängers ist flüchtig, dafür aber wahrhaftig. Dies geschieht durch Spiegelneuronen, die es nur im Augenblick der Produktion gibt und die in der Reproduktion extrem minimiert werden. Das weiss jeder Mensch, der sein Gegenüber fragt, wie es ihm gehe. Die Antwort ist immer authentisch, sogar dann, wenn das Gegenüber die Unwahrheit sagt. Man spürt es. Diese Sinne gehen uns jedoch nach und nach verloren. Aber das ist wohl ein Grossteil des heutigen Lebens. Gespräche werden zum Beispiel online oder per SMS geführt und weniger Aug in Aug. Der Gesang eines Opernsängers aber auch das Gute Nacht Lied einer Mutter sind dafürverantwortlich diesen Zuständen wahrhaftig und quasi offline entgegenzutreten.

Brigitte Lehner: Welche Dinge sind wichtig im Gesangsunterricht?

Thomas Heyer: Das kann man nicht wirklich gut pauschal beantworten. Aber ich kann Ihnen sagen, was für meinen Unterricht wichtig ist.

Eine der Grundlagen ist eine Pädagogik, die den Schüler akzeptiert, wie er ist. Kein Mensch kommt in den Unterricht und singt extra schlecht. Das heißt: Wenn etwas stimmlich nicht gelingt, sollte man es zunächst nicht bewerten, sondern bearbeiten. Mein Unterricht ist deshalb nicht unbedingt Gesangsunterricht im konventionellen Sinne, es ist eher Stimmerziehung. Wann welches „t“ wie abgesprochen wird, ist wichtig, aber nicht vorrangig in meinem Unterricht - das machen an Hochschulen und bei Kursen meine wunderbaren Kollegen in der Korrepetition. Die können das auch besser als ich. Ähnlich ist es mit der Interpretation: Wenn ich etwas dazu sage, sind es eher Hinweise, Vorschläge oder Hintergrundinformationen zum Stück oder Komponisten. Der Sänger muss seine Interpretation jedoch selbst empfinden und nicht von außen aufgesetzt bekommen, wie so oft üblich. Ich möchte nicht, dass meine Schüler Schumanns Dichterliebe mit meinen Ideen singen, sondern mit ihren eigenen Erfahrungen und Vorstellungen ausfüllen. Wenn da nichts vom Schüler kommt, sehe ich mich verpflichtet zu sagen, dass der Sängerberuf keinen Sinn hat.

Ein weiteres wichtiges Element im Unterricht ist natürlich eine gesunde Gesangstechnik - und da gibt es so viele Ansichten, wie es Gesangslehrer gibt. Bei mir sind veränderbare Parameter wichtig. Eine Stirnhöhle kann ich nicht verändern, außer vielleicht mit einem großen Hammer (lacht), aber die Koordination einer Muskulatur kann ich sehr wohl bearbeiten. Dehnt die Stimmfalte, oder dehnt sie nicht? Schließt die Stimme, und falls ja, in welcher Qualität? 

Also: Die Stimme selbst ist der kardinale Faktor, den ich natürlich bearbeite. 

Auch das Thema Resonanz ist sehr wichtig. Hier können wir mit guten Übungen optimale Ergebnisse erzielen, so dass z.B. Sängerformanten hörbar werden, die sehr wichtig für Berufssänger sind.

Und das Thema Stütze: Wenn man sich bemüht, Appoggio durch eine Vorstellung zu erarbeiten, wird man lange unterwegs sein. Durch Vorstellung allein erarbeitet sich die Muskulatur doch eher langsam, von Koordination ganz zu schweigen. 

Auf meinen Kursen treffe ich immer wieder viele Sänger mit schwacher Ausatmungsmuskulatur - das wird dann natürlich mit dem Zwerchfell kompensiert, welches aber leider ein Einatmungsmuskel ist. Gerade bei Berufssängern dauert es dann länger, die Koordination zwischen Stimme und Atmungsorgan wieder herzustellen - man führt es quasi wieder zurück in den Naturzustand.

Brigitte Lehner: Arbeiten Sie auch mit dem Körper?

Thomas Heyer: Mögen Sie einmal eine Stützübung mit mir machen? Dann können Sie erleben, wie kraftvoll und energetisch Gesang sein kann. Das ist Körperarbeit.

Als Gesangslehrer sollte man sich auf die Bearbeitung der eben genannten, veränderbaren Parameter fokussieren. Immer wieder sehe ich anstelle von Gesangsunterricht eine nicht fundierte esoterische Körperarbeit, die für alles gleichzeitig helfen soll. So etwas ist eine Beleidigung für jeden gut geschulten Körpertherapeuten. Ich bin nicht als Körpertherapeut ausgebildet und kann deshalb Körperarbeit auch nur sehr begrenzt im Unterricht einsetzen, was ich auch so richtig finde. Eine Verspannung, die ausschließlich während des Singens auftritt, ist ja meist nicht körperlich-pathologisch, sondern vielmehr eine Kompensation, die in dieser singenden Situation notwendig ist und nicht aus muskulärer oder gar intellektueller Dummheit entsteht. Der Sänger kann in dem Moment nicht anders. Nur wenn der Sänger die richtige zum Singen benötigte Muskulatur verwendet - und das zeigen wir ihm im Gesangsunterricht - werden diese Verspannungen verschwinden, und das Stimmorgan wird in seiner Gesamtheit zu hören sein.

Ebenso ist es mit Unterricht, der auf Vorstellungen und Bildern basiert: Diese können zwar helfen, sind aber durch ihre individuelle Prägung nur begrenzt sinnvoll, und erarbeiten sicher auch nicht ein unteres Passagio eines Mezzosoprans oder ähnlich komplexe und langwierige Dinge in der Stimmkoordiantion. Ein Bild ist immer persönlich und deshalb schwierig zu übertragen und manchmal auch abstrus in der Umsetzung. Bildhafte Vergleiche im Gesang sind nicht nur hinkend, sondern oft auch schlicht falsch und oft nicht zielführend. Singen Sie nächsten Sonntag in der Kirche beim Gloria besser, wenn ich Ihnen sage, dass Sie dabei an einen Baum denken sollen, der Wurzeln schlägt? Die wenigsten von uns waren im vorigen Leben Bäume und ich halte so was nicht für seriösen Gesangsunterricht. Ebenso unsinnig sind irgendwelche Tonskalen, die in einer fast zufälligen Reihenfolge abgesungen werden. Aber glauben Sie mir: Ich habe hier absolut unsinnige Praktiken gesehen, die trotzdem oder gerade deshalb funktionieren können. 

Aus meiner Perspektive findet Gesangsunterricht in dieser Reihenfolge statt: erst hören, dann konkret handeln. Als Lehrer ist wichtig, was man tut, und nicht, was man sagt - wie sonst im Leben auch! Das Wesentliche ist unsagbar.

Brigitte Lehner: Also, der Atem ist wichtig, um....

Thomas Heyer (unterbricht lachend): Nein, Atem ist völlig unwichtig fürs Singen - Atem ist die Luft, die aus Ihrem Mund strömt, diese können Sie recht gut mit Hygienemaßnahmen wie z.B. Zähneputzen oder Kaugummikauen beeinflussen - am besten vor den Liebesduetten bitte! Was Sie meinen, ist Atmung, also die Sängerstütze. Selbst in der Fachliteratur wird dies verwechselt. Atmung und Atem sind unterschiedliche Dinge.

Brigitte Lehner: Mit den Begrifflichkeiten sind Sie aber sehr genau.

Thomas Heyer: So genau wie möglich - und das ist schwer in der Gesangspädagogik. Es gibt keine einheitliche Nomenklatur. Für jedes Ereignis in der menschlichen Stimme gibt es viele unterschiedliche Bezeichnungen, die sich teilweise sogar widersprechen. Manche sind modern, andere entspringen einer Tradition, manche sind schlicht verwirrend. Besonders interessant zu beobachten sind die vielen neueren Methoden, die akustische Phänomene mit stimmlicher Koordination verwechseln und damit auch noch, zumindest finanziell betrachtet, erfolgreich arbeiten.

Brigitte Lehner: Wie betrachten Sie die Gesangsausbildung an deutschen Hochschulen?

Thomas Heyer: Unterschiedlich, sehr unterschiedlich. Es gibt in Deutschland eine ganze Reihe von guten Lehrern für Gesang, und einige davon sind an Hochschulen. Ein Professorentitel sagt über die Qualität nicht immer etwas aus, ich kenne Lehrbeauftragte und Musikschullehrer, die hervorragende Arbeit leisten. Manchmal bin ich sehr traurig, dass ein Studierender, der voller Euphorie zu seinem neuen Lehrer ins Studium geht, feststellen muss, dass die erwartete Qualität in der Arbeit mit dem Lehrer ausbleibt - entweder, weil dieser über Wochen nicht anwesend ist, oder weil er im Grunde „nur“ Sänger und eben nicht auch Gesangslehrer ist, wie es für einen Gesangsprofessor sicher sinnvoll zu sein scheint.

In Frankfurt haben wir das Glück, einige gute und sehr unterschiedliche Gesangslehrer zu haben! Das find ich richtig klasse!

Darüber hinaus finde ich, dass ein Musikstudium ein Musikstudium ist. Die Studierenden sollten sich wirklich musikalisch bilden und die Fächer, die man dazu benötigt, ernsthaft erarbeiten, jedoch ist Gesang das Hauptfach und das kommt oft zu kurz. Ich sehe meine Studenten 4 mal wöchentlich. Drei technische Einheiten und mit der ganzen Klasse eine Singstunde, um das auswendig präparierte Repertoire in einer geschützten Vorsingsituation zu präsentieren. Das finde ich wichtig. Auswendig singen ist bei mir Pflicht, wer das nicht kann, hat im Sängerberuf nichts verloren. Man muss vielMusik in kurzer Zeit memorisieren können. Wenn Sie bei einer dreiseitigen Arie wie zum Beispiel die Arie der Musetta aus Bohème nur die Melodie und den Text extrahieren, dann bleibt da ungefähr eine halbe Din A 4 Seite übrig. Vom Pensum her lernen das Grundschulkinder in Vor- und Nachsingsituation in Minuten. Manche Studierende benötigen Wochen um soetwas zu erarbeiten und kennen dann immer noch nicht die Vortragsbezeichnungen dieser Arie, die ebenso sehr wichtig sind. Ganz zu schweigen vom Klavierauszug oder gar der Partitur. Das geht bei mir nicht, denn dann würde man ja Jahre zum Erarbeiten einer ganzen Opernpartie benötigen. Soviel Zeit zum Erarbeiten gab es nie und gibts auch nicht. Nicht am Theater, nicht im Konzertgeschäft und auch nicht an der Hochschule.

Neben der frankfurter Hochschule sehe ich auch andere Hochschulen, die eine gute Arbeit machen - viele Gesangsabteilungen in Deutschland haben sich aufgemacht, um studentenorientierter zu arbeiten. Dazu hilft auch der Bund deutscher Gesangspädagogen - das ist ein wichtiger Verein, der auch Fortbildungen anbietet. Das halte ich für sehr wichtig.

Brigitte Lehner: Unterlaufen Ihnen auch Fehler ?

Thomas Heyer: Klar, erst kürzlich fiel mir auf, dass ich einen Schüler eigentlich falsch unterrichtet hatte. Aber dass so wenig passiert, liegt ja nicht an mir, sondern an den Schülern - die sind mündig und sollen und dürfen Kritik geben, und je länger sie in der Klasse sind, desto schwerer wiegt die Kritik! Dadurch kann ich mich als Lehrer doch erst so richtig entwickeln. Als Lehrender sollte man auch immer Lernender sein.

Brigitte Lehner: Worauf sind sie stolz?

Stolz ist ein starkes Wort. Manchmal freue ich mich sehr über künstlerischen Erfolg, aber ob das dann mein alleiniges Verdienst ist? Wer kann das nach einer „Johannespassion“ von Bach bewerten - der meiste Applaus geht doch hier an Bach, und dann erst an die Musiker!

Mich macht es sehr glücklich zu sehen, wenn meine Schüler gut sind, als Sänger oder als Gesangslehrer! Hier ist aber „erfolgreich“ und „gut“ zu unterscheiden: Wieviele erfolgreiche Künstler kennen wir, die nicht unbedingt auch gut sind... Es ist natürlich ganz toll, wenn ein Student den ersten Preis im „Internationalen Musikwettbewerb Köln“ oder eine Studentin den „Bilbao Singing Competition“ gewinnt! Mich bewegt aber auch tief im Innern, wie gut einige meiner Leute unterrichten. Die wissen wirklich, wie man das macht - und zwar nicht als Kopie von mir, sondern mit eigenem Wissen und Reflexion. Manchmal ertappe ich mich überglücklich beim Erarbeiten einer Koordination einer Stimme, die nun endlich nach einem langen Arbeitsprozess vollkommen frei und ungehemmt singen kann. Dann bin ich sehr froh und, wenn Sie mögen, auch etwas stolz.

Brigitte Lehner: Halten Sie also Reflexion für wichtig?

Thomas Heyer: Wenige Wörter werden so maßlos überschätzt wie das Wort Reflexion. Besonders beim Sänger. Hier wird „Reflexion“ oft als Synonym für „Textausdeutung“ benutzt. Die meisten Texte sind aber, verzeihen Sie bitte, doch recht schlicht und beim ersten Lesen vollständig zu begreifen - bitte lesen Sie mal das Libretto vom Troubadour oder lesen Sie mal die Texte von Wilhelm Müller in Schuberts Müllerin. Das ist einfach kein Kant oder Hegel - das ist Poesie, und die ist so wunderschön, dass man sie eh nur mit dem Herzen begreifen kann. Und einem jungen Menschen dann zu sagen, dass er dies oder jenes falsch empfindet, liegt mir doch fern. Wenn mal etwas kommt, das einen intellektuell fordert, sollte man sich im Vorfeld darum bemühen, für alles Andere reicht ein gutes Herz, wie sonst im Leben auch. Wenn eine Sängerin den Buchstaben„A" über das Wort„ Ach" beim Beginn der Pamina Arie in ihre Noten schreibt, um daran zu denken, dass sie ein„A" singen muss, halte ich dies nicht für reflektiert sondern für dumm. Noch schlimmer wird es, wenn der Sänger den Vorgang des Singens während des Singens reflektiert und sich quasiwährenddessenselbst unterrichtet, um nach irgendwelchen Vorstellungen zu suchen. Pseudoreflexion durch Bewusstmachung vollkommener natürlicher Tätigkeiten ist oft der Beginn des Verfalls der Natürlichkeit. Das kann man solange machen, bis von der Gesangsfreude, mit der man einst so überschäumend begann, nichts mehr übrig ist. Der Sänger sucht dann nach dem Trick des Singens während er singt. Das wäre so, wie wenn man während einer Autofahrt einen Ölwechsel durchführen will. Aber der Trick beim Singen ist: es gibt keinen. Wenn der Säger das begreift, wird er sofort in diesem Moment befreit sein und statt Reflexion seine volle Emotion hörbar machen.

Als Gesangslehrer hingegen braucht man eine Menge an Reflexion seiner Arbeit, da man sie dadurch verbessert und nicht über Jahre immer den gleichen Käse unterrichtet! Obwohl viel Erfahrung nicht immer mit „gut“ gleichzusetzen ist.

Brigitte Lehner: Welche künstlerischen Pläne haben Sie?

Thomas Heyer: Ganz einfach : Ich habe meine Künstlerlaufbahn noch nie geplant und werde es auch nicht tun. Ich bin in der glücklichen Lage, auswählen zu können und schaue mir die Kriterien genau an: Ruhm und Ehre, Freude am Musizieren oder eine überzeugende Gage. Eins von den drei Dingen sollte immer dabei sein, am besten aber alle drei, wobei mir zur Zeit die Freude am Musizieren der wichtigste Faktor ist. Die Anfragen für Konzerte sind zahlreicher, als ich möglich machen kann, und vielleicht singe ich auch nochmal den Tamino irgendwo - den mag ich besonders und habe ihn auch sehr, sehr oft gesungen.

Brigitte Lehner: Lieber Professor Heyer, vielen Dank für das Gespräch. Letzte Frage: Was tun Sie denn, wenn Sie nicht singen oder Gesangunterricht geben?

Thomas Heyer: Dann trage ich einen viel wichtigeren Titel, der auch mit P beginnt: Papa!

Man singt nur mit dem Herzen gut - Thomas Heyer wird Porfessor in Frankfurt

Thomas Heyer dürfte gerade neun Jahre alt gewesen sein, als man ihn im niederrheinischen Waldniel immer wieder auf Festen und Feiern entdeckte – mit einem umgeschnallten Akkordeon und der Freude, zum eigenen Spiel nach Herzenslust zu singen. Sich musikalisch zu äußern, war für ihn schon damals „so selbstverständlich wie schwimmen oder Rad fahren“, sagt er. Diese Haltung ist ihm auch noch heute zu eigen. Seit Oktober 2008 ist der Tenor Thomas Heyer Professor für Gesang an der HfMDK.

Sicher ist seine musikalische Sozialisation mitverantwortlich für seine Überzeugung, dass Singen „kein intellektueller Zustand ist. Das Wesentliche beim Singen ist, dass man es emotional macht. Sobald ich es wirklich emotional steuere, wird es Musik.“

Schon in der Zeit seines Kölner Studiums der Schulmusik war er von der Neugier getrieben, die physiologischen Zusammenhänge des Stimmapparates zu verstehen. Er hospitierte bei unzähligen Sängern, leitete mit 18 Jahren seinen eigenen Jugendchor und hatte sich als 20-jähriger Student bereits seine private Ge- sangsklasse aufgebaut. Mit 23 Jahren, noch während seines Lehramtsstudiums, holte ihn die Hagener Oper zu seinem ersten Bühnenengagement als Solist. Mit Mitte 20 besang der Tenorsolist in der Kölner Philharmonie bereits Beethovens „Ode an die Freude“ und sammelte reichlich Erfahrung in der Oper und auf dem Konzertpodium. „Als Student habe ich mir mein Studium selbst finanziert“, erinnert er sich an seine Studienzeit; „am Samstagabend bin ich mit `Love me tender` aufgetreten, am Sonntagnachmittag dann mit Haydns Schöpfung.“ Seine Studien in Gesang und Gesangspädagogik komplettierte er bei Prof. Arthur Janzen, Judith Lindenbaum sowie bei den Kammersängern Prof. Reinhard Leisenheimer und Kurt Moll. Internationale Engagements folgten.

Die ersten Musikstudenten, die von Thomas Heyers pädagogischer Begabung profitierten, erlebten ihn als Lehrbeauftragten an der Universität Siegen. Die dort von ihm initiierten Auführungen von Humperdincks Hänsel und Gretel und Figaros Hochzeit, besetzt mit Studierenden seiner Gesangsklasse, ließen erahnen, dass Unterrichten für Thomas Heyer mehr mit Leidenschaft als mit Pflicht zu tun hat. Mehrere Semester unterrichtete er als Lehrbeauftragter an der HfMDK, bevor er schließlich auf die Professur von Karl Markus als sein Nachfolger berufen wurde.

„Die Welt ist so, wie wir sie sehen“ und „Man singt nur mit dem Herzen gut“ lauten zwei wichtige Leitsätze von Thomas Heyer. Damit formuliert er sein pädagogisches Selbstverständnis, an stimmlichen Defiziten physiologisch – eher im Sinne eines Trainings – zu arbeiten und gute Anlagen zu verstärken. „Eine Stimme kann das, was sie kann. Was sie nicht kann, muss man zunächst der Muskulatur im Unterricht zeigen. Eben eine klare Kompetenzverteilung zwischen Schüler und Lehrer!“ Er ist sich sicher: „Ein Mensch, der sich für ein Musikstudium entschlossen hat, ist ja voll mit Musik. Wir müssen ihn nur noch öffnen.“

Im Unterricht ist es dem Tenor wichtig, „als Lehrender selbst Lernender zu bleiben“. In den ersten Semestern eines Gesangsstudiums möchte er für die Studierenden eine Bezugsperson sein: Viermal pro Woche bekommt ein Gesangsstudent bei ihm Unterricht: technische Einheiten und jede Woche eine Klassenstunde. Aus stimmphysiologischer Sicht sei ein junger Sänger anfangs nicht in der Lage, so Heyers Überzeugung, sich selbst zu unterrichten. Daher können in seinem Unterricht so sinnfällige Sätze fallen wie: „Hör auf zu üben und fang an zu singen!“

Für den Rheinländer ist die Gesangsprofessur schlicht „sein Traumberuf“. Bis zu 10 mal im Jahr gibt er zusätzlich Masterclasses in Europa und USA; 2010 folgt er einer Einladung zu einem Meisterkurs in Kanada. Außerdem „gibt es für mich keinen Tag, an dem ich nicht singe – das ist für mich schlichtweg eine Lebensäußerung.“ Ganz privat kann er das Musizieren übrigens auch nicht lassen: Dann vertieft er sich am Klavier in einen Band mit Schubert-Liedern. bjh

Aus der Seele statt aus der Kehle

- Interview mit Björn Hadem

Vom "Infotag Gesang" profitieren Interessenten ebenso wie Lehrende und Studierende der Gesangsabteilung 

Seit 2009 lädt die Gesangsabteilung der HfMDK zum "Infotag Gesang" jene ein, die über eine Aufnahmeprüfung für diesen Studiengang nachdenken. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die alljährliche Veranstaltung ein Gewinn für beide Seiten ist: Angehende Künstler bekommen ein realistisches Feedback schon vor der Aufnahmeprüfung; das Niveau der Gesangsabteilung hat sich noch einmal gesteigert, seitdem Bewerber mit gezielterem Wissen und Können der Jury vorsingen. Gesangsprofessor Thomas Heyer berichtet über seine positiven Erfahrungen. 

Frankfurt in Takt: Herr Heyer, Sie sind Initiator und Organisator des Infotags Gesang. Wie entstand er?

Prof. Thomas Heyer: Als ich 2008 die Professur an der Hochschule antrat, hatte ich den Eindruck, dass die "Wände" der Hochschule noch durchlässiger sein müssten, nämlich, um schon vor Studienbeginn über die Anforderungen eines Gesangsstudiums aufzuklären, eben bevor sich Sänger bei uns der Eignungsprüfung stellen. Diese Idee hat sich als nützlich für beide Seiten erwiesen.

FiT: Inwiefern beide Seiten?

Thomas Heyer: Die Anzahl der Bewerber zum Gesangsstudium an unserer Hochschule ist gestiegen. Wesentlich aber ist, dass sich viele von ihnen durch den Besuch beim Infotag Gesang gezielter und damit besser auf die Prüfung vorbereiten konnten. Viele kommen mit einer großen Begabung, aber einem für ihre Stimme gerade nicht optimalen Repertoire, um ihre Stärken zu zeigen. In dieser Hinsicht können wir ihnen hilfreiche Tipps geben. Überdies können wir Kandidaten auch klar sagen, dass es zum Gesangsstudium nicht oder noch nicht reicht. Für uns Professoren ist der Infotag eine Gelegenheit, uns mit unserer jeweils sehr unterschiedlichen Art des Unterrichtens zu präsentieren und uns damit selbst auf den Prüfstand zu stellen. Und der Interessent kann seine neben dem Singen wichtigste Begabung fördern. 

FiT: Die da wäre?

Thomas Heyer: Die Begabung, den für ihn passenden Lehrer zu finden. Gerade, weil die vier Gesangsprofessoren an der HfMDK so unterschiedlich, aber jeder für sich effizient, arbeiten, ist es wichtig, für sich den "richtigen" zu entdecken. 

FiT: Was läuft beim Infotag Gesang genau ab?

Thomas Heyer: Die Kandidaten singen vormittags den Lehrenden einzeln vor und bekommen ein Feedback. Nachmittags haben sie Gelegenheit, offene Unterrichte aller Professoren zu besuchen, dort zuzuschauen und sich selbst unterrichten zu lassen. Davon profitieren übrigens auch unsere Studierenden: Sie schauen dabei gern in die offenen Unterrichte auch der "anderen" hinein. Wichtig ist natürlich auch der Austausch der Interessenten mit den Studierenden. Dafür haben wir einen Infostand eingerichtet, wo direkt alle Fragen mit unseren Studierenden geklärt werden können.

FiT: Wenn Sie betonen, wie unterschiedlich die methodischen Ansätze der in der Gesangsabteilung sind, könnten die Meinungen der Jury bei den Aufnahme- und Abschlussprüfungen entsprechend weit auseinandergehen, oder?

Thomas Heyer: Wir haben vor einiger Zeit eine Tischvorlage gemeinsam erarbeitet, in der wir uns auf objektiv bewertbare Grundparameter geeinigt haben - dazu zählen unter anderem musikalische Ausdrucksformen wie Legato oder die Beherrschung des Messa di voce. Aber sicher bleibt es eine Herausforderung, Kandidaten "objektiv" zu bewerten - das ist übrigens umso schwieriger bei einer Abschlussprüfung, wenn den Studierenden ein individueller Ruf in der Abteilung vorauseilt.

FiT: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Voraussetzungen für ein Gesangsstudium?

Thomas Heyer: Zuvorderst drei Dinge: die Stimme, die Stimme und dann die Stimme. Musikalität ist natürlich Voraussetzung - sie zu zeigen, allerdings bei schlechter Stimmkoordination sehr schwierig. Am überzeugendsten singen die, die es gern tun, die, die mit der Seele und nicht mit der Kehle singen. Sendungsbewusstsein und starke Emotionalität sind unabdingbar. Zudem spielt das äußere Erscheinungsbild immer mehr eine Rolle für eine spätere Vermittlung an Opernhäuser.

FiT: Können Sie auf dem Hochschul-"Markt" einen spezifischen Ruf der HfMDK-Gesangsabteilung heraushören?

Thomas Heyer: Am ehesten den, dass es als besonders schwierig empfunden wird, bei uns als Gesangsstudierender aufgenommen zu werden, weil wir die Messlatte recht hoch legen - entsprechend gut sind auch die Abschlussergebnisse. Und was auch für Frankfurt steht: Sänger, die bei uns aufgenommen werden, haben dafür das Placet der gesamten Jury-Teams und nicht nur das des späteren Hauptfachlehrers. Bei aller Unterschiedlichkeit sind Prüfungsentscheidungen bei uns absolute Teamsache. bjh 

Sandra Wagner, Porträt/Interview Tenor Thomas Heyer, 05.07.08

Er trifft immer den Ton

„Meine Stimme ist ein Stück meiner Persönlichkeit”, weiß Tenor Thomas Heyer

Als Kind war der Waldnieler Thomas Heyer Mitglied des Waldnieler Akkordeonorchesters. Heute ist er Tenor und Professor. PlusPunkt hat mit dem Musiker gesprochen.         

Waldniel/Köln. Konzerte im In- und Ausland, darunter in den Philharmonien Köln und Berlin, Rundfunk- und Fernsehproduktionen, Barock, Klassik, Romantik und zeitgenössische Werke – die Palette ist breit gefächert.

Andere Jungs spielen Fußball, Sie haben lieber gesungen. Liegt das im Blut?

Überhaupt nicht. Meine Mutter ist Hausfrau und die beste Köchin der Welt, mein Vater Handwerker. Es ergab sich schlicht. Mit acht Jahren spielte ich im Akkordeonorchester, später machte ich Unterhaltungs- und Tanzmusik, sang Schlager. Zudem habe ich den Jugendchor St. Michael Waldniel zehn Jahre geleitet. Musik gehörte für mich zum Alltag.

Heute sind Sie ein gefragter Tenor und Musikpädagoge. Gab es jemals Zweifel an Ihrer Berufswahl? Was wäre Ihre Alternative gewesen?

Es war immer schon klar, dass ich etwas mit Musik machen wollte. Das ist pure Freude. Zum Glück haben meine Eltern mich immer unterstützt. Handwerker wäre auch eine Möglichkeit gewesen, aber nicht wirklich.

Gesang ist doch auch irgendwie Handwerk.

Stimmt. Ein Instrument übt man, eine Stimme wird trainiert - das ist eine Frage der Muskulatur. Allerdings sollte Freude die Motivation sein, nicht der Gedanke des Müssens. Für mich ist meine Musik eine gar nicht so ernste Kunst; ich muss mich nicht im Kämmerlein einschließen und grimmig gucken. Kunst und künstlich liegen nah beieinander. Meine Stimme ist ein Stück meiner Persönlichkeit und mir ist es wichtig, authentisch zu sein. Dazu gehört sicherlich auch mal etwas Komisches oder eine heitere Kinderoper.

Ab Oktober werden Sie Professor für Gesang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main sein.

Darüber freue ich mich sehr und bin auch stolz darauf, denn es ist angesichts meines Alters – ich bin Jahrgang 1972 - ziemlich ungewöhnlich. Es ist genau die Arbeit, die ich machen möchte.

Sie leiten auch Gesangkurse im In- und Ausland, darunter seit einigen Jahren jeweils im Sommer auch in Ihrer alten Heimat Waldniel.

Haus Clee kannte ich schon als Kind. Die Idee, die Kurse dort zu leiten, lag nahe. Es sind schlicht die besten Voraussetzungen, die es für einen solchen Meisterkurs geben kann. Zielgruppe sind Studenten oder Profis „auf dem Sprung“, also junge Sänger auf dem Weg ins Opernhaus. Die maximal acht Teilnehmer kommen in diesem Jahr aus ganz Deutschland, aber auch aus der Schweiz, Neuseeland, Kanada und Österreich. Eine Woche lang trainieren wir dreimal täglich Technik und Repertoire. Nachmittags wird das Erarbeitete gemeinsam resümiert. Unterstützt werde ich dabei von meinem Pianisten Klaus Roth.

Sie leben in Köln. Was verbindet Sie mit Waldniel?

Leider bin ich sehr selten dort. Natürlich bestehen noch Freundschaften. Ich habe viele schöne Erinnerungen an Waldniel, etwa aus der Zeit, wo ich noch im Karneval aktiv oder Messdiener war. Mein liebstes Stück aber ist der Dom. Ich habe manches Benefizkonzert zu Gunsten seiner Restaurierung gegeben. Der Kölner Dom ist eben nur fast so schön wie der in Schwalmtal! 

© THOMAS HEYER 2024